Leseprobe - Himmel über Ostfriesland

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1. Kapitel


"Das ist deine letzte Chance, meine Liebe", sagte sie und sah ihre Tochter eindringlich an, "deine allerletzte Chance. Das sage ich dir! Wenn sich in den nächsten Wochen und Monaten nichts ändert, ziehst du aus. So langsam habe ich die Nase voll von deinen Unverschämtheiten. Irgendwann reicht es auch mal! Mir steht es bis hier." Rebekka zeigte mit der Handkante knapp über der Stirn um zu verdeutlichen wie sehr es ihr reichte. Melina saß auf dem Holzstuhl in der Küche ihrer Großtante mit zusammengekniffenen Lippen und verschränkte die Arme so, wie sie es immer machte wenn sie keine Lust auf Gespräche jeglicher Art hatte. Sie schwieg mal wieder eisern wie so oft in letzter Zeit. Schweigen konnte sie gut. Ihre Mutter hatte es tatsächlich fertig gebracht mit Melina nach Ostersander, einem kleinen Ort der Gemeinde Ihlow irgendwo im Nirgendwo in Ostfriesland zu fahren. Als Rebekka Melina angekündigt hatte, sie würde sie zu ihrer Tante aufs Land bringen, wenn sie so weitermache, hatte diese nur frech gelacht und gespottet: "Das bringst du nicht fertig. Du nicht. Entweder lässt du dich von Raimund bumsen oder du spielst Hoppe, hoppe Reiter mit dem Hosenscheißer." Rebekka, die eigentich immer für eine gewaltfreie Erziehung war, hatte Rot gesehen und Melina für diese Unverschämtheit so eine schallende Ohrfeige verpasst, dass diese vor Schreck verstummte. Sofort waren ihr Tränen in die Augen geschossen. "Nur nicht weinen." schalt sie sich. "Du darfst keine Gefühle zeigen." hörte sie plötzlich die Stimme ihrer besten Freundin Ginger. "Wenn du Gefühle zeigst, bist du am Arsch. Dann kriegen sie dich und machen mit dir, was sie wollen." Melina schluckte hart. Ja, Ginger hatte Recht. Das wusste sie. Wer Gefühle zeigte, war schwach. Sie wollte nicht schwach sein. Darum rannte sie ihrer Mutter hintherher. Diese hatte den Kleiderschrank ihrer Tochter aufgerissen und stopfte wahllos Klamotten in Reisetaschen und Koffer. "Mama, was machst du?" schrie Melina vor Entsetzen. "Mama, hör auf damit!" Sie sprintete auf Rebekka zu und bekam sie am Arm zu fassen. "Mama, lass das!" Doch Rebekka ließ sich nicht aufhalten. Sie schüttelte ihre Tochter ab wie ein lästiges Insekt und packte weiter die Sachen. Wütend schnappte Melina eine der beiden offenen Reisetaschen und schüttete den gesamten Inhalt auf den Fußboden. "Hör auf!" schrie sie erneut. Rebekka entriss ihrer Tochter die Reisetasche und packte die verstreuten Klamotten wieder ein. Schließlich nahm sie die beiden Reisetaschen und den Koffer, verließ die Wohnung und eilte in Richtung Auto. Melina rannte hinter ihr her, versuchte, ihre Mutter daran zu hindern, die Klamotten ins Auto zu bringen, indem sie sich ihr in den Weg stellte. "Lass mich durch!" blaffte Rebekka. "Nein!" keifte Melina zurück. "Ich bleibe hier!" Rebekka blieb stehen, stellte die Reisetaschen und den Koffer hin, sah ihre Tochter an und sagte scharf: "Entweder du kommst augenblicklich mit und wir fahren nach Ostfriesland oder ich mache gleich einen Termin beim Jugendamt und du kommst in ein Heim für schwer erziehbare Jugendliche. Da kannst du dann wohnen bis du 18 bist." Melina öffnete den Mund, wollte etwas sagen. Doch dann schloss sie ihn wieder, folgte ihrer Mutter wortlos. Rebekka warf die Reisetaschen und den Koffer in den Kofferraum ihres Audi A4 und ging zur Fahrertür. Plötzlich war Melina doch weich geworden - Ginger hin oder her. Sie stürmte auf ihre Mutter zu und klammerte sich an ihren Arm wie eine Ertrinkende. "Bitte, Mama!" sagte sie in flehendem Ton. "Bitte. Es tut mir leid. Ich mache alles wieder gut. Aber bitte lass mich hier bleiben." Rebekka schüttelte ihre Tochter abermals ab. "Ich hab´ dich lieb." stieß diese so unvermittelt hervor, dass Rebekka einen tiefen Stich in ihrem Herzen spürte. Aber sie kannte die Masche und den Tonfall ihrer Tochter zur Genüge. Jedes Mal, wenn es brenzlig wurde oder wenn Melina etwas wollte, schlug sie diesen Ton an, der jedes Mutterherz weich werden ließ. Doch nie hielt Melina sich daran. Bereits schon eine Stunde später hatte sie schon wieder vergessen, was sie ihrer Mutter versprochen hatte. Nun war der Punkt gekommen, an dem die Masche nicht mehr zog. So schwer es Rebekka auch fiel, musste sie jetzt eine Grenze setzen. "Es ist zu spät." erklärte die deshalb schroff. "Du hast uns - vor allem mich - immer wieder und zu oft enttäuscht. Du hast immer wieder versprochen, dass du dich ändern wirst und du dich nicht mehr mit Ginger und den anderen triffst. Ich weiß keinen anderen Ausweg mehr. Nur so kann ich dich von ihnen trennen. Vielleicht änderst du ja doch was. Ich weiß es nicht. Aber ich muss auch an Leander denken." "Ist ja klar, dass du wieder an den kleinen Hosenscheißer denkst." schnauzte Melina. "Aber eins steht fest: wenn du mich in diese Einöde bringst, rede ich nie wieder mit dir." Rebekka atmete tief durch. "Steig ein." sagte sie schlicht. Melina gehorchte und sie fuhren los. Während der Fahrt schwiegen beide eisern.


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